Wer bei Grünlicht in eine Kreuzung einfährt und dann aufgrund eines Rückstaus den Kreuzungsbereich für längere Zeit nicht räumen kann, darf nicht blindlings auf seinen Status als bevorrechtigter „echter Nachzügler“ vertrauen, sondern muss sich vergewissern, dass eine Kollision mit dem Querverkehr, der (erst) nach mehreren Sekunden Grünlicht für seine Fahrtrichtung in die Kreuzung einfährt, ausgeschlossen ist. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm entschieden. Die Beklagte befuhr mit einem Pkw Kia Ceed bei Grünlicht in den Kreuzungsbereich einer Straße ein und kam dann aufgrund eines Rückstaus des Linksabbiegerverkehrs hinter der Fluchtlinie zum Stehen. Nachdem sie mindestens 40 Sekunden gestanden hatte – die von ihr zuvor passierte Ampel zeigte bereits mehr als 20 Sekunden Rotlicht –, entschloss sie sich dazu, die Kreuzung zu räumen. Im Kreuzungsbereich stieß sie mit dem vom Ehemann der Klägerin gefahrenen Opel Astra zusammen. Dieser war zuvor einem Fahrzeug gefolgt, welches die Beklagte passieren ließ, und hatte bei seiner Einfahrt in den Kreuzungsbereich mindestens 19 Sekunden Grünlicht.
Den ihr durch den Unfall entstandenen Sachschaden in Höhe von rund 13.900 Euro hat die Klägerin von der Beklagten, vom Halter des Beklagtenfahrzeugs und von dessen Haftpflichtversicherung ersetzt verlangt. Die Versicherung glich vorprozessual zwei Drittel des Schadens der Klägerin aus. Das restliche Drittel in Höhe von circa 4.600 Euro und weitere entstandene Nebenkosten hat die Klägerin eingeklagt. Die Klage war in zweiter Instanz erfolgreich. Nach der Aufklärung des Unfallhergangs und der Schadenshöhe hat das OLGHamm der Klägerin circa 4.600 Euro für den noch nicht regulierten Fahrzeugschaden sowie circa 450 Euro für durch den Unfall verursachte weitere Aufwendungen und für einen Nutzungsausfall zugesprochen. Die Beklagte habe, so das OLG, in erheblicher Weise gegen das im Straßenverkehr geltende Rücksichtnahmegebot verstoßen. Sie sei zwar bei Grünlicht in den Kreuzungsbereich eingefahren. Dort sei sie zunächst aufgehalten worden, sodass sie diesen dann grundsätzlich als gegenüber dem Querverkehr bevorrechtigter „Nachzügler“ habe räumen dürfen. Dabei habe sie aber nicht blindlings darauf vertrauen dürfen, vom Querverkehr vorgelassen zu werden.
Ein „Nachzügler“ habe den Kreuzungsbereich vielmehr vorsichtig, unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- oder Querverkehrs mit Vorrang zu verlassen. Die Anforderungen an seine Aufmerksamkeit erhöhten sich mit seiner Verweildauer im Kreuzungsbereich. Je länger sich ein „Nachzügler“ im Kreuzungsbereich aufhalte, desto eher habe er mit einem Phasenwechsel und anfahrendem Querverkehr zu rechnen. Er müsse dann davon ausgehen, dass der übrige Verkehr aus seinem Verhalten schließen könnte, dass er nicht weiterfahren werde. Deswegen dürfe er nach einer längeren Verweildauer nur dann weiterfahren, wenn er sich vergewissert habe, dass eine Kollision mit dem Gegen- oder Querverkehr ausgeschlossen sei. Diesen Sorgfaltsanforderungen habe die Beklagte nicht genügt, so das OLG. Sie sei vielmehr unerwartet und zügig losgefahren, ohne auf das herannahende Klägerfahrzeug zu achten. Mit dieser Fahrweise haben sie den Unfall im erheblichen Umfang verschuldet.
Den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs treffe demgegenüber kein Verschulden. Der Beklagten habe er als „Nachzügler“ nicht mehr die Möglichkeit geben müssen, die Kreuzung zu räumen. Nachdem die für ihn geltende Ampel bereits über 19 Sekunden Grünlicht gezeigt habe, als er in die Kreuzung einfuhr, und vor ihm bereits weitere Fahrzeuge in seiner Richtung sowie aus seiner Gegenrichtung kommend den Kreuzungsbereich passiert hatten, habe er auf seine freie Durchfahrt vertrauen und nicht mehr mit Nachzüglern aus dem Querverkehr rechnen müssen. OLG Hamm, Urteil vom 26.08.2016, 7 U 22/16
